„Existiert denn kein Porträt Michelangelos von Vittoria Colonna?“

Die Frage stellte sich ein verzweifelter Historienmaler im 19. Jahrhundert, der Vittoria Colonna porträtieren sollte. Er löste das Problem, indem er sie unbekümmert durch ein Modell ersetzte. Ein Gedicht Michelangelos in der Hand der Dichterin, nicht einmal ein eigenes Sonett, genügte dem Maler, um die Frau als Vittoria Colonna auszuweisen.

Zufall oder Fügung?

Die Dialoge Paolo Giovios, des großen Biographen der italienischen Renaissance, der in den Jahre 1527/1528 monatelang Vittorias Gast auf der Burg in Ischia war, enthalten seine präzise Beschreibung ihrer markanten Physiognomie:

Augen:

schwarz, wie von glänzendem Elfenbein umrandet. Sie ähneln den Augen der Venus, sind aber nicht kokett, sondern schön durch Frohsinn und glitzernde Lichter;

Haar:

schwarz wie Ebenholz mit darin verwobenem Gold, wie das Haar der Leda gewesen sein soll“;

Ohren:

Wenn in den kleinen Ohren mit den nicht angewachsenen Ohrläppchen auch Edelsteine und Perlen hängen, kehrt der Blick doch sogleich von den Juwelen zu ihnen zurück.

Nase:

Die Natur hat einen kleinen Hügel in ihrer Mitte mehr angedeutet als ausgebildet und das so geschickt, dass durch etwas, das doch männliche Herbheit anzeigt, ihrer weiblichen Lieblichkeit keinerlei Abbruch geschieht. 

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Vittoria mit den Zöpfen

Unabhängig voneinander betonen Michelangelo und Paolo Giovio die androgyne Schönheit Vittoria Colonnas. Auch Thomas Mann hob Michelangelos Vorliebe für solche Wesen hervor, in denen sich Männliches und Weibliches vereinte, wie in der wundersamen Zeichnung, die er von der Colonna entworfen: mit dem seelenvollen, vor Seelenfülle brechenden, Auge und dem starken, üppig-schön geformten, Mund. Man kann wohl sagen, dass kein Werk seiner Hand, auch die Gedichte nicht, die in ungeheurer Sinnlichkeit verwurzelte Übersinnlichkeit seiner Erotik vollkommener wiedergibt.

Trotz ihrer seelenvollen Augen und ihres sinnlichen Mundes haftet Vittorias Haltung eine gewisse Steifheit an. Vermutlich handelt es sich um eine offizielle Zeichnung, da Michelangelo von ihrem Gatten ein Pendant schuf, das verloren ging. Im Jahre 1613 fertigte Antonio Tempesta noch von beiden Zeichnungen Kopien für Kupferstiche an, die sich in der Albertina in Wien erhielten. In Legenden wies der Kopist auf die zugrunde liegenden Zeichnungen Michelangelos hin.

Obgleich Michelangelo Vittoria ein mit Perlen und Edelsteinen besticktes Käppchen, das sie übrigens selbst entwarf, kunstvoll in ihr prachtvolles Haar drapierte und ihren Zöpfen seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete, nervte ihn das prunkende Gehabe seiner geliebten Marchesa. Eines seiner Gedichte liest sich wie ein spöttischer Kommentar zu dieser Zeichnung.

Lezi, vezzi, carezze, or, feste e perle.

Chi potria ma vederle

Cogli atti divin l’uman lavoro?

 

Schmuck, Halsketten, Schmeicheleien, Gold, Feste und Perlen

wer nimmt den Tand wahr,

da sie Göttliches schafft?

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Vittoria mit den Ohrringen

Die Gesichtszüge der mageren, jungen Frau stimmen wiederum mit der Beschreibung Paolo Giovios überein. Ein augenfälliges, von Michelangelo elaboriertes, Detail ist das hübsche Ohr mit dem Ohrring, das auch Giovio auffiel. Michelangelo betont das androgyne Erscheinungsbild Vittorias, mildert es aber zugleich in einem feinen Linienarrangement ihres Gesichtes, das die physische und psychische Fragilität der jungen Frau und die zärtlichen Gefühle des Zeichners für sie spüren lässt. Michelangelo konnte ja seinen Blick nicht von dieser Frau abwenden: Von nah und fern können meine Augen sehen, wo dein schönes Gesicht sich zeigt. Ihr Gesicht faszinierte ihn so sehr, dass er den Tod in jeder anderen Schönheit erblickte. Um die Wahrnehmung dieser einzigartigen Frau zu intensivieren, hätte er am liebsten seinen ganzen Körper in ein einziges Auge verwandelt. 

Auch diese ergreifende Zeichnung ist kein Porträt, sondern ein Inbild. Michelangelo introvertierte den Blick der jungen Frau. Ihre starke Unruhe, die der Zeichner in kurzen, schraffierten Linien auf Turban und Gewand nachklingen lässt, hat Vittoria bereits in nachdenklicher Gefasstheit gebändigt, eine psychische Leistung, die Michelangelo zu dieser Zeichnung inspiriert haben mag. Dennoch bleibt der Eindruck innerer Zerrissenheit bestehen, die den Blick der Frau immer noch nach innen zieht.

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Halbfigur derjungen Witwe

Die spontane Skizze wird in das Jahr 1525 datiert, in dem Vittoria verwitwete. Kurz vorher muss Michelangelo die offizielle Zeichnung der stolzen Gattin des großen Heerführers Pescara geschaffen haben: „Als aristokratischer Paradiesvogel bewegte ich damals mein stolzes Gefieder mit weitem Flügelschlag“, dichtete Vittoria. Anstelle des aufwändigen Kopfputzes hat sich die Witwe nun ein Band um den Kopf gewunden und ihre kostbare Brokatrobe mit einem schlichten Gewand vertauscht, in dem sie einem Bewohner von Ferrara auffiel: „ Heute Morgen besuchte die Marchesa von Pescara die Herzogin in einem einfachen Kleid.“

Michelangelo skizzierte die Witwe als Halbfigur, um ihre äußere und innere Veränderung ins Bild zu setzen. Ihre depressive Stimmungslage verrät sich in der elaborierten Neigung ihres Halses im Gegensatz zu der gewohnten stolzen Haltung ihres Nackens, die nach Giovio „Ernst ohne Strenge, Heiterkeit ohne Leichtsinn, Freundlichkeit ohne Koketterie“ ausdrückte. 

Wieder introvertierte Michelangelo den Blick Vittorias, um ihr inneres Ringen gegen Verzweiflung und suizidale Neigungen, ihr Aufbegehren gegen den Tod ahnen zu lassen, Emotionen, die sie in ihren expressiven Sonetten herausschrie.

In ihrem, vom Zeichner sorgsam ausgeführten, Gesicht drückt sich indes eine tapfere, gefasste Haltung aus, mit der sie gegen ihre Niedergeschlagenheit ankämpft. Es deutet sich auch eine Spur von stolzer Selbstbehauptung an, die ergreifend mit der einsamen, fragilen Gestalt der Witwe kontrastiert.

Weshalb kein Porträt Michelangelos von Vittoria Colonna existiert:

Nach der Vertiefung in seine einfühlsamen Zeichnungen, die Michelangelo von seiner geliebten Marchesa schuf, fällt die Antwort nicht schwer. Den Liebenden, der die verehrte Frau zu ergründen begehrte, faszinierte die Spiegelung ihres Innenlebens in ihrem Gesicht und in ihrer Körpersprache. Er verwarf das Porträt wegen der Statik der Porträtierten, wegen ihrer gewollten Haltung und wegen des intendierten Ausdrucks. Michelangelo bevorzugte für Vittoria die Zeichnung, die er allen anderen Künsten vorzog. Nur als Zeichner, nicht als Porträtist, konnte er ihre Spontaneität, ihre innere Dynamik, die Unwiederholbarkeit des Augenblicks ihrer Begegnung, ins Bild bannen.