Auf der Spitze der Pyramide - Das weibliche Genie der italienischen Renaissance

In dieser einmaligen göttlichen Frau erstrahlen Bildung und schöpferischer Geist so hell, dass sie jenen riesigen Feuern gleichen, die von den Pharaonen auf den Spitzen der Pyramiden entzündet wurden. - Paolo Giovio

First Lady des Geistes

Vittoria Colonna wurde als kinderlose Witwe, die sich eigentlich aus der Gesellschaft zurückzuziehen hatte, die Grande Dame des Geistes in ihrer Zeit.

Keine andere Aristokratin schuf sich auf der Grundlage ihrer humanistischen Bildung, die in der Renaissance zum ersten Mal Frauen zugestanden wurde, ein ähnlich eindrucksvolles Netzwerk von Beziehungen zu den Geistesgrößen der italienischen Renaissance wie sie.

An Vittoria Colonna, ihrer kongenialen, kritischen Freundin, wurde von den Literaten, Philosophen, Theologen, wie aus einem Mund, ihr männlicher Geist gepriesen. Kardinal Contarini, der Reformer der katholischen Kirche, ließ ihr seinen theologischen Traktat über die Reue zusenden, mit der ausdrücklichen Bitte um ihre Stellungnahme. Bembo, der Literaturpapst der italienischen Renaissance, schrieb: „Mir scheint, dass sie meine Verse präziser interpretiert als jene gelehrteren und größeren Literaten.“

In der römischen Gesellschaft brillierte Vittoria Colonna als souveräne Salonière, deren Gespräche über die Kunst ein Michelangelo mit seiner Anwesenheit ehrte. Sie entzückte auch mit weiblichem Liebreiz und warmherzigem Charme. Giovio, der berühmte Biograph der Renaissance, der 1527 monatelang ihr Gast auf der Burg in Ischia war, liest in ihren Augen Frohsinn, der nicht spöttisch kokettierend, sondern liebevoll sei. Ihre Anwesenheit erzeuge bei Freunden niemals Langeweile, sondern Bewunderung und anhaltendes Nachdenken! Dennoch konnte sie auch beißend-ironisch parieren. Ihr weibliches Raffinement war nicht leicht zu überbieten, vor allem nicht in ihrem Umgang mit Papst Paul III, den sie um den Finger wickelte.

Sie war die einzige Frau im Leben Michelangelos, ihres unico maestro et singularissimo amico, den sie zu einer Vergeistigung seiner Kunst inspirierte, den sie aber auch mit ihren „Häresien“ infiltrierte. Dem Häretiker Paar Vittoria Colonna/Michelangelo ist die sensible Anpassung der Darstellung des Gekreuzigten an das Erwachen des Individuums in der Renaissance zu verdanken: Michelangelos Christus am Kreuz ergibt sich nicht in den unerforschlichen Willen Gottes, sondern fordert Rechenschaft von seinem göttlichen Vater für den Skandal des Kreuzestodes, den er ihm, seinem einzigen Sohn, auferlegte.

Die stolze Renaissancefürstin tat sich schwer mit dem kreatürlich leidenden Christus am Kreuz. In einem freudvolleren Gottesbild vereinigt die Humanistin Jesus Christus mit der Lichtgestalt des griechischen Gottes Apoll; denn sie schaute Apoll, dessen „leuchtender Strahl im Vorübergehen jeden Stern erhellt.“ „Sei mein Apollo“, beginnt sie ein Sonett an Christus. Sie habe, schrieb sie Michelangelo, die spätmittelalterlichen Ecce Homo Bilder des gemarterten Jesu „ans Kreuz geschlagen“, weil sie die Darstellung des Gottessohnes in seinen physischen Qualen nicht ertrug. Darum stellte Michelangelo den Gekreuzigten in der Zeichnung, die er ihr schenkte, mit dem muskulösen Idealkörper eines griechischen Gottes dar.

Vittoria Colonna initiiert die Renaissance der Frau

Als Humanistin auf der Höhe ihrer Zeit sieht Vittoria Colonna im Renaissance-Humanismus und in der von Luther angestoßenen religiösen Selbstbestimmung des Individuums Möglichkeiten einer geistig-seelischen Erneuerung für die Frau. Die Feministin strebte eine weibliche Variante der selbstbestimmten Renaissance Persönlichkeit an, indem sie ihre eigene Selbstverwirklichung exemplarisch für andere Frauen in die Ichsprecherin ihrer Sonette projizierte. Was sie an Marguerite d’Angoulême rühmte, gilt in weit höherem Maße für sie selbst: „Indem Sie zu einem Juwel werden, bereichern Sie andere.“

Vittoria Colonna befreit die Frau aus den Fesseln männlich imaginierter Weiblichkeit und spornt sie zu einer geistig seelischen Erneuerung aus eigener Kraft an. In diesem Streben steigert sie sich zum weiblichen Genie der Renaissance. In einem großartigen humanistischen Remake lässt sie die Mutter Gottes von Michelangelo als natürliche Frau in schlichter Kleidung darstellen, die den Jesusknaben auf übereinander geschlagenen Beinen hält, weil sie die süßlichen Madonnen der Renaissance als männlich imaginierte, erotische Phantasien verwarf. 

Unerschrocken fordert die Humanistin Menschenwürde und geistige Freiheit für die Frauen.

Fusse una donna libera, urteilt ihr zeitgenössischer Biograph über sie. Er hatte Recht. Sie nahm sich als Frau skandalöse Freiheiten heraus, indem sie weibliche Verhaltensmuster dekodierte, die der Frau von zwanghafter, männlich phallischer, Dominanz implantiert wurden.

In ihrem, noch heute männliches Ärgernis erregenden, „gender-crossing“ transponiert sie fixierte männliche und weibliche Rollen. Sie wagte es, Dante und Petrarca, ihren Dichtervätern, das Privileg der Liebesdichtung streitig zu machen. Als erste Frau dichtete sie Liebenssonette, in denen sie ihr weibliches, nicht nur platonisches, Liebesverlangen nach ihrem toten Gatten zum Ausdruck bringt. Kühn setzt sie sich über das, von diesen Dichtern propagierte, Idealbild der spröden Frau hinweg, missachtete die sogenannte weibliche Tugend der Schamhaftigkeit und exponierte sich in erotischen Sonetten. Es war zugleich ihr genialer Protest gegen die Patriarchen ihrer feudalen Gesellschaft, die aus politischen Gründen Ehen erzwangen und eiskalt die Gefühle der Frauen ignorierten.

Kühn stellte die Feministin männliche Doppelmoral bloß, indem sie in öffentlichen Events Kurtisanen rehabilitierte und dabei auch nicht vor Skandalen zurückschreckte, zum Beispiel, als sie eine reuige Kurtisane in Franziskanerkutte auf einer Kanzel predigen ließ, obgleich oder gerade weil der Heilige Paulus den Frauen Schweigen in der Kirche gebot.

Sie dekodierte sogenannte weibliche Tugenden und feminine Gefühle, die, von Männern diktiert, in Wahrheit weibliche Leidensfähigkeit und Ergebenheit in Grenzsituationen sichern sollten: Vehement verweigert Vittoria die Witwen auferlegte „stille Trauer“. Die als Epigonin Petrarcas abqualifizierte Lyrikerin sagt in Wahrheit „no“ zum „süßen Stil“ ihres Dichtervaters und schreit als junge Witwe ihren Schmerz in einer expressionistischen Dichtung heraus, die von Georg Trakl stammen könnte.

Sie entdeckt und beschreibt die ambivalente Veränderung ihrer Gattenliebe: In eine gefräßige Schlange, die an ihrem Herzen nagt, hat sich die Liebe zu ihrem Gemahl verwandelt, als er sie allein ließ und in den Krieg zog. Vittoria demontiert die von der Kirche propagierte weibliche Ergebenheit in den unerforschlichen Willen Gottes, wie sie der Pietà suggeriert wurde, als sie ihren toten Gottessohn im Schoß hielt, indem sie beschreibt, wie sich die Gefühle Marias als einer lebendigen Frau in Wahrheit verändert haben mussten: „Ich sah, dass in jener Stunde alle Tugenden, die ihre Seele nährten, von Schmerz vergiftet waren.“

Vittorias weiblicheres Gottesbild

Vittoria Colonna ist mehr als die Protofeministin, die Menschenwürde für die Frau fordert. Sie ist die „Neue Frau“ Apollinaires: „eine Gestalt, für die noch kein Konzept gefunden wurde, die aus der Menschheit emporsteigt, die Flügel haben und die Welt erneuern wird.“

Wenn Gott als männlich definiert wird, folgert sie, bedürfe er einer Frau als Gottesgebärerin für die Existenz seines Sohnes. „Nur wenig geringer als der göttliche Sohn ist die ewige Mutter“, jubelt sie. Ihre strahlende Mutter Gottes, die Gott mit der, von Vittoria so heiß ersehnten, unendlichen Lebensfülle begnadete, ist im Gegensatz zu der „Magd des Herrn“ in der Amtskirche und der schlichten Frau der Reformtheologie eine geistig hochstehende Frau, die Vittoria mit der Intelligenz einer Humanistin ausstattete. Die Idee Gottes, eine menschliche Frau zur Mutter seines göttlichen Sohnes zu erwählen, bot Vittoria die Berechtigung, die Mutter Jesu zur Sachwalterin seines Erbes an die Menschheit zu machen und ihre intellektuelle Überlegenheit über die Apostel zu postulieren. Sie ließ Maria nicht stumm in ihrer Runde sitzen:

„ Stell dir vor“, schrieb sie ihrer Freundin Costanza, „wie göttliche Erleuchtung in ihr erstrahlte, wie ihre Ratschläge, die keinen Gesetzen folgten, neues Recht setzten für jene, die ihr zuhörten, ihr der Lehrerin, die vom größten Meister eingesetzt wurde, um die Ordnung der Welt zu erhalten, die er mit seinem Blut begründet hat.“

Weibliche Erneuerung der männlich fabrizierten Welt

Während sich moderne Frauenrechtlerinnen darauf beschränken, nur Gleichberechtigung der Frau in unserer maskulin dominierten Gesellschaft zu fordern, ohne ihre Einseitigkeit verändern zu wollen, ist Vittoria Colonna vielleicht bis heute die einzige Frau, die das Übel an der Wurzel packte:

Aus der Perspektive der Frau, deren ureigene Aufgabe sie darin sah, das Leben in seiner Fülle und Vielfalt zu schützen, griff sie die Einseitigkeit maskulinen Denkens und Gestaltens an, die zu gewaltsamer Verunstaltung und Entstellung des menschlichen Lebens und der Welt führten.

Die geniale Frau, die sich der Fülle des Lebens verpflichtete, beugte sich keiner männlichen Einseitigkeit, keinem männlichen Absolutheitsanspruch, keinem Dogmatismus. Sie positioniert sich im weiblich gewollten Gegensatz zum männlichen Intellekt und seinen Schöpfungen, nicht um sie zu verwerfen – das hätte sie als unweiblich empfunden -, wohl aber um sie in ihrer Einseitigkeit zu hinterfragen, zu bereichern und zu ergänzen, aus der Perspektive einer Frau, der es um Vielfalt des Lebens und um die weibliche Mitgestaltung der Welt ging. Ausnahmslos alle vorgegebenen männlichen Denkmodelle, mit denen sie sich befasste, seien sie literarisch, philosophisch, theologisch, bemaß Vittoria Colonna an ihrem authentischen, subjektiv-weiblichen Respons, der von ihrer Sehnsucht nach Lebensfülle getragen war.

So brach sie aus dem lebensfeindlichen Platonismus aus, bejahte in ihren Rime Amorose auch die sinnliche Liebe zu ihrem attraktiven Gatten und hoffte in körperlicher Schönheit in den Himmel aufzufahren, in Erwartung einer glücklicheren Fortsetzung ihrer unglücklichen Ehe auf Erden.

War Vittoria Colonna – diese provozierende Frage drängt sich auf - die einzige Frau, die Denkanstöße gab für ein genuin weibliches Mitwirken an der Gestaltung der menschlichen Gesellschaft? Hätte ihr Beispiel Schule gemacht, welche immensen Zerstörungen durch maskuline Gewaltanwendung hätten sich durch weibliche Mitgestaltung der Welt verhindern lassen, hätten Frauen ihren ureigenen Auftrag, Leben zu schützen, wahrgenommen, statt sich in weiblichem Fatalismus männlicher Dominanz zu ergeben.

Shakespeare

Jener, der uns mit so weit reichendem Verstand erschuf, der vor- und rückwärts blicken kann, gab uns diese Fähigkeit und gottgleiche Vernunft nicht, damit sie ungenützt in uns vermodere.

Sure, he that made us with such large discourse,

Looking before and after, gave us not

That capability and godlike reason

To fust in us unused.