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Michelangelo schuf keine Porträts von Vittoria Colonna, obwohl oder weil er sie liebte – Condivi: „grandemente amò la Marchesana di Pescara“ -, sondern er zeichnete Inbilder ihres lebendigen Geistes. Doch er idealisierte sie nicht, sondern ließ  ihre Physiognomie in seine Zeichnungen einfließen, die ihn nicht los ließ. Michelangelo hätte am liebsten seinen  ganzen Körper in ein einziges Auge verwandelt, um sich an ihr zu erfreuen. Vittoria bedeutete ihm mehr als eine Muse oder eine platonische Geliebte. Und was bedeutete Michelangelo ihr? „Einmaliger Meister und mein einzigartigster Freund“, begann sie einen Brief an ihn.

Michelangelo und Vittoria Colonna

Die Quellen über die Beziehung Vittoria Colonnas zu Michelangelo sind sporadisch: Ein Brief Michelangelos, zwei Briefe Vittorias über die Zeichnung eines Kruzifixus, die er, so Condivi (Michelangelos Biograph zu dessen Lebzeiten), Vittoria zuliebe angefertigt habe. Von Michelangelos Gedichten, die er ihr in großer Zahl widmete, kann nur eines sicher zugeordnet werden, da er es auf die Rückseite eines Briefes an sie kritzelte. In einem weiteren, wieder nicht datierten Brief wird deutlich, dass der verliebte Sechzigjährige Anlässe suchte, um sie sehen. In ihrem Brief vom 20.Juli (1543?) aus Viterbo, erteilt sie ihm eine bemäntelte Abfuhr wegen seiner Aufdringlichkeit, soll ihn aber dann, wie Vasari schreibt, von Viterbo aus viele Male in Rom besucht haben. Sie hätten Sonette ausgetauscht und er habe ihr eine Pietà und eine Samariterin am Brunnen gezeichnet.

Wie sehr sich Vittoria um Michelangelo sorgte, belegt ihr Brief an Alvise Priuli, den sie bat, ihr in Venedig einen Spiegel zu besorgen, „ den ich mit einem vergoldeten Silberfuß verzieren lassen möchte, um ihm die Sicht beim Malen zu erleichtern, weil er sich in der Kapelle, die er in San Paolo gestaltet, so sehr erschöpft“.

Den Beweis ihrer tiefen Zuneigung birgt der Pergamentkodex Vaticanus 11539, der einen Canzoniere ihrer Sonette enthält, den sie eigenhändig zusammenstellte und ihm verehrte. Michelangelo erwähnt das Geschenk in einem Brief an seinen Neffen Lionardo vom 7. März 1551. Er ließ die 103 Sonette zusammen mit weiteren vierzig Sonetten in Pergament binden und hütete das Bändchen wie einen kostbaren Schatz.

Condivi bestätigt Michelangelos große Liebe zu Vittoria Colonna „ grandemente amò la Marchesana di Pescara.“ An Fetucci schrieb Michelangelo nach ihrem Tod, er und Vittoria hätten sich sehr gemocht: „ Der Tod nahm mir einen großen Freund – Morte mi tolse un grande amico“

„Einmaliger Meister und mein einzigartigster Freund“, redete ihn Vittoria in einem Brief an. Der Superlativ einmalig, der dem Künstler gilt, wird noch überboten durch den zweiten Superlativ: mein einzigartigster Freund.“

Nur in der Zusammenschau ihrer Briefe, ihrer Sonette, der Zeichnungen Michelangelos von Vittoria und für sie, die in dieser biographischen Studie zum ersten Mal gewagt wurde, lässt sich die Beziehung zwischen den beiden Genies in ihrer Komplexität entfalten, wenn auch nie ganz ergründen. Gewiss erschöpfte sich die Bedeutung Vittoria Colonnas für Michelangelo nicht in der Rolle einer Muse oder einer platonischen Geliebten.

Die größte Aussagekraft über die Beziehung zwischen Michelangelo und Vittoria Colonna bergen seine sechs Zeichnungen von ihr. Die Identität Vittorias konnte in dieser Studie dank schriftlicher Belegstellen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden.

Michelangelo schuf keine Porträts von Vittoria, sondern Inbilder ihrer geistig-seelischen Lebendigkeit, die ihn begeisterte.

Irreführend wurden in die Sekundärliteratur die Bezeichnungen „Ideal head of a woman “, „eine Frau“, „head of a young man“ eingeführt. Vittoria wurden die Zeichnungen nicht zugeordnet.

Es sind aber keine idealisierten Zeichnungen. Michelangelo war von ihrer knabenhaften Erscheinung – „ein leicht maskulines Decor“ (Giovio) - fasziniert, so sehr, dass er am liebsten seinen ganzen Körper in ein einziges Auge verwandelt hätte, um sich an ihrem Erscheinungsbild zu erfreuen! Ihre markante Physiognomie (lange Nase, volle Lippen, üppiges Haar, hübsche Ohren, Ohrring, Magersucht) gab er genau wieder. Schriftliche Zeugnisse ihrer Zeitgenossen bestätigen zum Beispiel: „Sie hatte die Haut auf den Knochen.“ Auch ihre schlichte Kleidung als Witwe, vor allem den Witwenschleier zeichnete er, den sie um den Kopf band, auch als Turban oder Kopftuch trug und in einem Brief selbst erwähnte.

Eine Zeichnung gibt die Vorliebe der prunksüchtigen Marchesa zu Lebzeiten ihres Gatten für kunstvolle Frisuren wieder, die sie selbst kreierte. Sie stellten ihr prachtvolles Haar zur Schau, „das Haar der Leda“. Giovio und Michelangelo kritisierten ihr faible für pompöses Auftreten.

Michelangelo: „Lezzi, vezzi, carezze, or, feste, perle, chi potria ma vederle?“ – Schmuck, Halsketten, Schmeicheleien, Gold, Feste und Perlen! Wer nimmt den Tand wahr, da sie Göttliches schafft.“