Essay

Vittoria Colonnas

faszinierende Lebendigkeit

Wir interessieren uns für die zwangsläufig zersplitterte, widersprüchliche und wandelbare, bald sichtbare, bald unsichtbare Person und vor allem für die Persönlichkeit, diesen Schatten oder Reflex, welchen die Person manchmal als Schutzwall oder Herausforderung mit erzeugt.

Marguerite Yourcenar

 

Vittoria Colonna ist keine rigide Ikone, die uns kalt lässt. Sie ist wandelbar, unberechenbar, widersprüchlich. In ihrem ständigen Aufbruch zu Neuem irritiert sie uns, hält uns in Atem, tritt uns persönlich nahe, beunruhigt uns, weil wir sie nicht in den Griff bekommen. Sie befremdet in ihrer Megalomanie, frappiert uns mit ihrem Intellekt, macht uns mit ihrem universalen, Himmel und Erde umfassenden, Bewusstsein die Enge unseres geistigen Horizontes klar, rührt uns im nächsten Augenblick mit ihrer kindlichen Naivität oder verärgert Castiglione mit ihrer Indiskretion. 

Die gleiche Frau, die uns mit psychologischer Tiefenschärfe unbekannte Regionen der menschlichen Seele offenlegt, beschwindelt uns und sich selbst. Sie beschönigt und verdrängt, weil sie gefangen ist in Illusionen, Selbsttäuschungen, der Ruhmsucht ihrer Zeit, dem Mythos ihrer noblen Familie, den sie ins Gigantische steigert. Auffallend wenig denkt sie über sich selbst nach. Im Gegensatz zu Hamlet grübelt sie nie über Vergangenes. Dazu fehlt ihr die Muße, weil sie, einem inneren Drang folgend, sich am laufenden Band neu orientiert, sich in unvorhersehbarer Weise wandelt, weil sie die anderen Menschen und die Welt in ihrem Sinn verändern möchte. Sie bildet kein Profil aus. Sie identifiziert sich nicht. Sie verkörpert keine Rolle. Sie überwindet Konventionen. Sie will nur eines, sich selbst bestimmen und kein Baum sein, „der nicht aus seiner eigenen Wurzel wächst“.

In ihren verstörenden Stimmungsumschwüngen, in denen sich ihre Bipolarität manifestiert, kennt Vittoria Colonna kein Entweder - Oder, sondern nur ein Sowohl-Als-Auch. Apostrophiert als Jüngerin Platos, relativiert sie in Wahrheit die Statik des Platonismus an der Dynamik des Lebens, die unbefriedigend blasse Geistigkeit der platonischen Liebe an der körperlichen ehelichen Liebe, in der allein sie erfahren habe, was Leben sei.

Sie ist die Poetin der italienischen Reformation; denn sie goss das zentrale Credo der reformierten Theologen, die Rechtfertigung des Christen durch den verinnerlichten Glauben an die Barmherzigkeit des gekreuzigten Gottes in die Kunstform ihrer Sonette und doch konnte die stolze Renaissancefrau die Schmach des gekreuzigten Gottes nie verinnerlichen, sondern versuchte in ihren Sonetten die erhabene Göttlichkeit Jesu Christi zu retten, indem sie die Schmach des Kreuzestodes mit triumphalen Siegen Christi über die Mächte des Bösen ausglich, indem sie Michelangelo den Gekreuzigten mit dem Idealkörper eines griechischen Gottes zeichnen ließ und den düsteren Christus der Kreuzestheologie mit dem strahlenden Gott Apoll in ihrem persönlichen Gottesbild vereinte.

Trauer und Ergebenheit geziemen der Pietà. Doch Vittoria projiziert in Maria, die ihren toten Gottessohn im Schoß hielt, naheliegende doch auch von uns nie zu denken gewagte Zweifel an seiner Göttlichkeit. Nietzsche war nicht so radikal wie sie, als er verkündete: „Gott ist tot“. Denn er fuhr fort: „Wir haben ihn getötet“. Doch anders als Nietzsches entschiedene Proklamation, ist Vittorias totaler Zweifel an der Göttlichkeit des toten Gottessohnes stimmungsgebunden. Im nächsten Augenblick schwingt ihre Seele zurück in tief empfundene Gläubigkeit. Im Gegensatz zu Nietzsche fährt sie nicht fest, setzt sie weder Gott noch die Gottlosigkeit absolut, sondern schwankt, zweifelt, weil sich Gott ihr nicht zu erkennen gibt, verfällt in Skepsis und glaubt dennoch. Dem dekadenten Beharren Nietzsches in der Gottlosigkeit steht die geistig seelische Flexibilität der vitaleren Renaissancefrau gegenüber, die Möglichkeiten offenlassen kann. Da sich Gott ihr nicht zu erkennen gibt, vereint Vittoria Gottgläubigkeit und Gottleugnung in sich und verkraftet als Frau den Widerspruch, indem sie Lebensfülle als höchstes Gut bejaht und Widersprüche zu ertragen vermag.

„Nur wenig geringer als der göttliche Sohn ist die ewige Mutter“, lautet die plakative Formulierung der Proto-Feministin für ihre Überhöhung der Mutter des Herrn, die ihr die Möglichkeit bietet, den männlich dreifaltigen Gott um eine göttliche Frau zubereichern. Wenn Gott als männlich definiert wird, so spekuliert sie in einem Sonett, dann ist er von einer Frau als Gebärerin seines Sohnes abhängig. Da Gott, um vollkommen zu sein, göttliches und menschliches Sein umfasst, besitzt er auch weibliche Züge, die sie dem heiligen Geist zuschreibt, indem sie seine inspirierende Beziehung zu ihr selbst als Lyrikern mit der Beziehung einer Vogelmutter zu ihrem Jungen vergleicht.

Natürlich stattet sie die Mutter Gottes, die zur schlichten Frau aus dem Volk von Amtskirche und Reformtheologen reduziert wurde, mit der Intelligenz einer humanistisch gebildeten Aristokratin wie sie selbst aus. Sie, seine Mutter, wird von ihr mit der Weitergabe der Lehre ihres Sohnes an die Nachwelt beauftragt. Vittoria ließ Maria nicht stumm in der Runde der Apostel sitzen. 

Während die Gottesmutter in mittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts an der Seite des Weltenrichters kniet und ihre gefalteten Hände ehrfurchtsvoll zu ihm erhebt, wendet sich die Madonna in Michelangelos Jüngstem Gericht, die Vittorias Züge trägt, missbilligend von ihrem im Zorn richtenden Sohn ab, um sich als Humanistin teilnahmsvoll der Menschheit zuzuwenden.

Einerseits fordert sie als Humanistin Menschen Würde, um andererseits als Feudalherrin Übeltäter unter ihren Leibeigenen mit Vergnügen geprügelt zu sehen. Sie huldigt dem Personenkult der Renaissance megaloman und meist unreflektiert.

Als Mensch der Renaissance verherrlicht sie das außergewöhnliche Individuum in einer lächerlich anmutenden Megalomanie, die sie nicht reflektiert. Obwohl sie es leugnet, ist sie doch ruhmbegierig und kultiviert ihren Nimbus. Um ihr Ansehen als kinderlose Witwe zu verbessern, kürt sie Del Vasto, den megalomanen General Kaiser Karls V und Cousin ihres Gatten zu ihrem geistigen Ziehsohn. Als dann ihr „Söhnchen“ an der Lebensrealität scheiterte, in schlimmen Verruf geriet und starb, dichtete sie ihm ein Totensonett. Nur dann könne sie für ihn beten, wenn sie sich sowohl von der übelwollenden Welt als auch von der Wahrheit entferne und in ihre Imagination flüchte, bekennt sie in dem Sonett klarsichtig. Anstatt jedoch für Del Vastos ewige Seligkeit zu beten, wie es sich gehört hätte, bittet sie Gott, er möge den Ruhm des Alfonso d’Avalos del Vasto, den er so sehr liebte, als „zarten Duft der reinen Lilie“, mit der sie ihn trotz seiner Missetaten verglich, „entlang den längsten Ufern der Welt“ verbreiten. Ist die kindische Vittoria in diesem Augenblick nicht rührend? Kennt nicht jeder von uns diese unsinnigen Bittgebete? 

Nicht nur Virginia Woolfs Selbstkonstituierung als Dichterin, auch Vittorias einsamer Weg zu weiblicher Selbstverwirklichung ist von großer innerer Unsicherheit begleitet. Darum wohl beschwor sie ihre Ichstärke im Bild des Wacholderbaums, der Stürmen trotzt, indem er seine Krone fest verschließt. Deshalb ließ sie sich von Kardinal Contarini philosophische Nachhilfe über das Problem der Willensfreiheit erteilen, die der zweite Mann der katholischen Kirche aber nur in der Transzendenz der Begierden und der Unterwerfung unter das Wollen Gottes gewahrt sah, während die Renaissancefrau Willensfreiheit der heiß begehrten Ichstärke gleichsetzte, die sie für ihre weibliche Selbstbestimmung benötigte, aber nicht immer aufbrachte, weil sie mit ihrer weiblichen Hingabebereitschaft in Konflikt geriet, vor allem, als sie dem charismatischen Reginald Pole verfiel und nicht begriff, dass sie ihrer „Fleischeslust“ in der Spielart „animalischer Mütterlichkeit“ zu erliegen drohte, wie ihr im Freundeskreis von Viterbo vorgeworfen wurde, als sie jegliche Contenance über Bord warf, Reginald Pole mit Christus identifizierte, wie ihr zurecht von der Inquisition vorgehalten wurde, den Vergötterten mit Geschenken überhäufte und, obwohl er sie indigniert zurückwies, ihn um seinen Besuch geradezu anbettelte, auch wenn er sie despektierlich behandelte und einen Bogen um sie machte. Zweifellos schwingt hysterische Erotik in dieser exzessiven Faszination mit, ohne dass sie sich ihre Schwäche eingestand. Pole verströme den Duft Christi, schwärmte sie in einem Brief an Kardinal Morone. 

Es mangelte der hochintelligenten Frau eklatant an Selbstreflexion. Sie stellte sich nicht in Frage, sondern belog sich selbst und geriet auch deshalb in existenzbedrohliche Identitätskrisen. In ihren weinerlichen Briefen aus Viterbo ist die brillante, souveräne Briefschreiberin nicht wieder zu erkennen. Sie erweckt den Eindruck, als hätten sich vor dem Cardinale da Inghilterradas stolze Selbstbewusstsein der Aristokratin und die hohe Bildung der Humanistin in Nichts aufgelöst.

Doch zum Trost für mich, die ich sie schon aufgegeben hatte, gelang ihr dann doch – Freuds Couch stand nicht zur Verfügung - die Selbstbefreiung aus der schwülen, passiven, sie sterbenskrank machenden Atmosphäre in derEcclesia Viterbiensis. Endlich löste sie sich aus ihrer inneren Lähmung, indem sie sich den rastlos tätigenMichelangelo zum Vorbild nahm und nach Rom zurückkehrte, wo sie – dem Himmel sei Dank!– zu sich selbst zurückfand und in einem aktiven Leben, soweit es ihre Krankheit zum Tode zuließ, ihre Identität wieder erlangte. 

Es tut weh, mein role modelso schwach erleben zu müssen. Andererseits ist mir Vittoria gerade in ihren schweren Identitätskrisen und Zusammenbrüchen ans Herz gewachsen. In ihrer Genialität entschwebt sie in unerreichbare Höhen, als Aristokratin befremdet sie, in ihrer Menschlichkeit ist sie eine von uns.

Während sich die Heilige Theresa von Avila, die große Zeitgenossin Vittoria Colonnas, mittelalterlich vollendete, als sie im neunten Zimmer ihrer Seelenburg ihre mystische Hochzeit mit Jesu feierte und beschrieb, ihr Text jedoch in mir keinerlei Regung, es sei denn Misstrauen, hervorrief, zieht Vittoria dem mittelalterlichen Weg zur inneren Vollkommenheit einen raschen Flug zu ihrem Geliebten im Himmel vor und präsentiert ehrlich und wahrhaftig vor sich selbst, statt der, von ihr sehr wohl begehrten, jedoch nie erlebten, Verschmelzung mit dem Göttlichen auf Erden, ihr „inneres Chaos“, das auch mir zutiefst vertraut ist. Anders als die Heilige Theresa, die wir nicht nachvollziehen können, tritt Vittoria Colonna dank ihrer menschlichen Echtheit, die so sehr an Shakespeare erinnert, mit uns in ihren, ein halbes Jahrtausend alten, Sonetten und Briefen in den unmittelbaren Kontakt eines intimen Dialogs. Ihr hochentwickeltes Bewusstsein der menschlichen Psyche, das ebenfalls an Shakespeare erinnert, macht auch sie und nicht nur ihn allein, zu einem kostbaren Medium der condition humaine.

Zu einem Wunder unvergänglicher geistiger Lebendigkeit wurde die Humanistin in ihrem unermüdlichen Bestreben, den mittelalterlichen Menschen zu veredeln. Sogar an unantastbare religiöse Mythen wagte sie sich heran, um deren menschliche Primitivität zu korrigieren. Und gerade vor Gottvater machte sie nicht Halt, für sie ein deus remotus, ein ferner Gott. Sie forderte ihn als Madonna del Silenzioin der Zeichnung Michelangelos, freilich vergeblich, auf, sich für den schmachvollen Tod, den er seinem und ihrem Sohn auferlegte, zu verantworten, nach menschlichem Rechtsempfinden, ein todeswürdiges Verbrechen, dessen er sich schuldig machte. 

Vor allem aber wegen ihrer Anstöße zu einer Renaissance der Frau im Sinne eines weiblichen Humanismus verdient Vittoria Colonna ihre, von Giovio enthusiastisch und effektvoll auf der ägyptischen Pyramide ins Bild gesetzte Spitzenstellung in der Frauengeschichte. Ihre eigenmächtige Positionierung als Dichterin und dazu noch von Liebessonetten an einen Mann, war damals ein unerhörtes Wagnis, und ist auch heute noch, glaubt man Virginia Woolf, ein Schritt, der äußersten Mut erfordert. Vittoria nimmt Ovid die Feder aus der Hand, um ihr persönliches Frauenschicksal selbst zu schildern. Sie wagt als erste Frau weibliche Liebesdichtung, nicht nur, um den männlichen Dichtern das Privileg der Liebesdichtung streitig zu machen, sondern auch, um zu demonstrieren, dass das Gefühlsleben der Frauen in politisch erzwungenen Ehen von den Patriarchen der italienischen Renaissance eiskalt mit Füßen getreten wurde.

Sie positioniert sich neben Petrarca, ihren Dichtervater, nicht um ihn, wie andere Poetinnen, nachzuahmen, sondern um sich in ihren Sonetten in Abkehr von seinem „süßen Stil“ ihr Witwenleid expressionistisch aus der Seele zu schreien, im Protest gegen die stille Trauer, die den Witwen auferlegt wurde und immer noch auferlegt wird. „Di stil no, ma di duol“, lautet die Devise ihrer bis heute einzigartigen Witwendichtung, die das weibliche Individuum in extremisspiegelt.

Singulär ist ihr Anspruch auf eine weibliche Komponente im männlich geprägten Geistesleben. Aus der Perspektive der Frau, die sich der Erhaltung des Lebens in seiner ganzen Fülle verpflichtet fühlt, korrigiert, relativiert, ergänzt und bereichert sie maskuline Abstraktion in philosophischen, literarischen und künstlerischen Denkmodellen. Unterschätzt wird ihr prägender Einfluss auf Michelangelos Ikonographie.

War Vittoria Colonna, das weibliche Genie der italienischen Renaissance nicht vielleicht – diese provozierende Frage drängt sich auf - bis heute die einzige Frau, die Denkanstöße gab für eine weibliche Komponente in unserem männlichen Gottesbild, wie auch in der weiblichen Gestaltung unserer Welt. Hätte ihr Beispiel Schule gemacht, wie viel maskuline Verunstaltung der Welt und welche immensen Zerstörungen, die maskuline Gewalt verursachte, hätten sich durch die Mitbestimmung von Frauen, die mit ihrem ureigenen Auftrag, Leben zu schützen, Ernst gemacht hätten, verhindern lassen? 

Weibliche Genialität wurde und wird Vittoria Colonna bis heute abgesprochen, da das weibliche Geschlecht nun einmal keine Genies hervorbringt Doch die Renaissancefrau, die, trotz Demutsbezeugungen, gern andere überbot, darf uns Vorbild sein in ihrer faszinierenden geistigen Produktivität. 

Sure he that made us with such large discourse,

Looking before and after, gave us not

That capability and godlike reason

To fust in us unused.

                                                  Shakespeare. Hamlet. IV,4.

 

Jener, der uns mit so weit reichendem Verstand erschuf, der vor-und rückwärts blicken kann, gab uns diese Fähigkeit und gottgleiche Vernunft nicht dazu, dass sie ungenützt in uns vermodere. Shakespeare. Hamlet IV,4