Wer war Vittoria Colonna eigentlich?

Wir interessieren uns für die zwangsläufig immer zersplitterte, widersprüchliche und wandelbare, bald sichtbare, bald verborgene Person und vor allem die Persönlichkeit, diesen Schatten oder Reflex, den die Person manchmal als Schutzwall oder Herausforderung mit erzeugt. MARGUERITE YOURCENAR   

Zu ihren Lebzeiten „die Göttliche“ und nach ihrem Tod „die größte Dichterin Italiens“ erstarrte Vittoria Colonna in der Folgezeit zur Ikone. Die First Lady des Geistes der italienischen Renaissance wurde ihrer Lebendigkeit beraubt. Wenig von ihrem Individualismus wurde von einer verständnislosen Nachwelt tradiert. Von der Inquisition als Unperson ausgelöscht, verschwand Vittoria für Jahrhunderte aus dem kollektiven Bewusstsein Europas. Im 19. Jahrhundert als platonische Geliebte Michelangelos wieder entdeckt, vom prüden Fin de Siècle  zur blassen Lilienheiligen stilisiert, im zwanzigsten Jahrhundert als Epigonin Petrarcas abgewertet, blieb sie in jüngsten Ausstellungen als Muse Michelangelos im Schatten des Meisters.

Wer war sie wirklich? Nichts weniger als das weibliche Genie der italienischen Renaissance.

Als Humanistin legte Vittoria Wert auf Selbstbestimmung und Vollendung  der weiblichen Persönlichkeit. Ihre humanistische Bildung, in deren Genuss die italienischen Aristokratinnen ihrer Generation als erste Frauen kamen, spornte sie an, ihre Intellektualität aufs höchste zu steigern. In der Antike versiert, fand sie im griechisch-römischen Menschenbild Korrektive, die sie vor Selbstverlust in konventionellen Verhaltensweisen bewahrten.

In ihrer spirituellen Dichtung gestaltete sie in kunstvollen Sonetten den verinnerlichten Glauben der Reformtheologen, war aber auch deren kritische Interpretin, die sich religiöse Selbstbestimmung vorbehielt. Die Humanistin hinterfragte mit atemberaubender Kühnheit christliche Mythen.

Vittoria, eine stolze Colonna, war die Tochter des Fürsten Fabrizio Colonna und der Agnese di Montefeltro. Um das Bündnis der Colonna mit dem in Neapel herrschenden spanischen Haus Aragon zu festigen, beschließt die Familie bereits 1496 die Ehe des Mädchens mit dem gleichaltrigen Ferrante d’Avalos aus altem kastilischen Adel , dem späteren Markgrafen von Pescara und genialen Heerführer Kaiser Karls V , der als Held der Schlacht von Pavia (1525) europäischen Ruhm erlangte. Die fatale Ehe blieb kinderlos.

Als formvollendete Aristokratin aus altem römischem Adel und als verehelichte Markgräfin von Pescara – sie unterzeichnet auch ihre persönlichen Briefe mit diesem Titel – genießt Vittoria Colonna glanzvolle Auftritte in der prunkliebenden Renaissancegesellschaft Italiens. Sie kreiert ihren persönlichen Mythos und übt gern Macht aus. Dennoch blieb sie bezaubernd natürlich und echt.

Vittoria Colonnas Feminismus ist humanistisch geprägt. Auf geniale Weise schlug sie aus den neuen Geistesströmungen des Renaissance-Humanismus und der Reformtheologie Kapital für eine geistige Renaissance der Frau. Ein unwiderstehlicher Impuls trieb sie dazu, es den männlichen Dichtern, Theologen und Literaten zu zeigen! Sie bereicherte deren Denkmodelle aus der Perspektive der humanistisch gebildeten Frau, der es, im Gegensatz zu männlicher Abstraktion, um Lebensfülle ging. Sie erstrebte eine geistig-seelische Befreiung der Frau durch Bewusstseinserweiterung, indem sie männlich implantierte Verhaltensweisen in ihrer Dichtung zur Sprache brachte und Tabus brach, zum Beispiel die Witwen aufoktroyierte „stille Trauer“. Als aufbegehrende junge Witwe schrie sie in ihren Sonetten ihr Witwenleid heraus, die Verzweiflung, die suizidale Versuchung, die Depressionen, die Wut, die frustrierte Lebenslust, die Vereinsamung in einem unnatürlichen Dasein. Als erste Frau in der Renaissance beanspruchte sie das männliche Privileg der Liebesdichtung. Von einem verhandelbaren Heiratsobjekt ihrer Familie mutierte Vittoria Colonna in eine Frau, die sich ihre Liebe zu einem Mann nicht verdrängen ließ, sondern in einer gewagten weiblichen Liebesdichtung zum Ausdruck brachte.

First Lady des Geistes in der Renaissancegesellschaft Italiens

Die prismatische Spiegelung Vittoria Colonnas in der Sekundärliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts suggeriert dem Leser eklektische Zerrbilder, als sei sie nur die platonische Geliebte Michelangelos gewesen oder die Dichterin der italienischen Reformation oder eine Heilige oder eine „säkularisierte Nonne“.  Dieser eklektische Ansatz ließ ihre weibliche Ausnahmeerscheinung, die von allen ihren Zeitgenossen gewürdigt wurde, zum Schatten ihrer selbst verkümmern.

Zum ersten Mal wurde in dieser biographischen Studie der Versuch unternommen,  die herausragende weibliche Persönlichkeit der italienischen Renaissance in ihrer einzigartigen Komplexität authentisch  und live auf der Basis einer reichen Quellenlage zu beschreiben, ohne ihr ein eklektisches Profil überzustülpen oder ihr ein Etikett anzuhängen.

Nur in der historisch wahren umfassenden Beschreibung offenbart sich Vittoria Colonna  als weibliche Variante der männlichen Genies der italienischen Renaissance.

Trotz ihres Rückzugs aus der Gesellschaft nach dem frühen Tod ihres Gatten (1525) wurde Vittoria Colonna erst als Witwe die große Dame der italienischen Renaissance. Außergewöhnlich für eine Frau stand sie mit den Geistesgrößen Italiens, allesamt Bewunderern ihres „männlichen Verstandes“ in Briefkontakt, den sie meist in Freundschaft vertiefte.

Welche andere Frau verfügte jemals über ein ähnlich ausgedehntes Netzwerk von Beziehungen zu den bedeutendsten männlichen Persönlichkeiten ihrer Zeit? Sie stand im Briefwechsel mit Kaiser Karl V, dem sie die Leviten las, mit dem Oberbefehlshaber seiner Heere, dem Prinzen von Orange, den sie mit hoher emotionaler Intelligenz dazu bewegte, ein voreilig verhängtes 

Todesurteil ohne Gesichtsverlust aufzuheben, mit den Herzögen von Ferrara und Mantua, mit allen Dichtern, auch den anrüchigen, vor allem aber mit literarischen Größen, mit Baldassare Castiglione, der sie als „göttlich verehrte“,  dem Literaturpapst Pietro Bembo, mit dem sie einen charmanten Briefwechsel auf hohem sprachlichen Niveau pflegte, Zeugnis der exquisiten Umgangsformen der Renaissance Aristokratie! Bembo und Vittoria flirten miteinander, sprühend von Witz und Ironie!

Sie suchte die Freundschaft der großen Reformtheologen Italiens und erhielt sie. Sie stand Gasparo  Contarini nahe, einem der menschlich und geistig bedeutendsten Kardinäle der katholischen Kirche. Sie setzte in einem ihrer zwölf erhaltenen Briefe an ihren „dolcissimo Morone“ dem großen Politiker der Kurie, Nuntius in Deutschland in der heißen Phase der Reformation, in einem einfühlsamen Porträt ein bleibendes Denkmal. Kardinal Reginald Pole, der Cousin des englischen Königs Heinrich VIII und spätere Erzbischof von Canterbury, erkor Vittoria Colonna zu seiner Ersatzmutter nach der Hinrichtung seiner leiblichen Mutter durch die Henker Heinrichs VIII.

Papst Clemens VII ernannte sie wegen ihrer hervorragenden politischen und administrativen Fähigkeiten als seine Statthalterin in der päpstlichen Stadt Benevent,  eine  schwierige Aufgabe die sie besser meisterte als ihre männlichen Vorgänger. 

Alle Zeitgenossen priesen ihren männlichen Verstand, den sie dem weiblichen Geschlecht absprachen. Nur die Genies erfassten ihre Kongenialität. Baldassare Castiglione, der ihr zuerst seinen Cortegiano zu lesen gab,  dessen Stil sie  einfühlsam und stimmig analysierte, definierte ihr Genie: „Ihr göttlicher Geist dringt in die Erkenntnis einer Sache ein, die anderen noch unbekannt ist.“

Für Michelangelo verkörperte sie sein Idealbild des Menschen, das männliche und weibliche Eigenschaften umfasste. Er schrieb über sie: „ Ein Mann in einer Frau also ein Gott spricht aus ihrem Mund. – Un uomo in una donna, anzi uno dio, dalla sua bocca parla.“